Mein Blog befindet sich derzeit noch im Aufbau. Bitte haben Sie noch etwas Geduld.

Serê Kaniyê: Erfahrungen aus dem Widerstand in Westkurdistan

Auf dem Weg von Amûde nach Serê Kaniyê [arab.: Ras al-Ayn, Name der türk. Zwillingsstadt: Ceylanpınar] sind auf der rechten Seite des Weges Zugschienen, Stacheldraht und alle hundert Meter stehen Posten des türkischen Militärr. Dieser Grenzübergang ist tausend Kilometer lang, aber es ist mehr eine neunzigjährige Wunde als eine Grenze. Eine Wunde, deren Schmerz nie nachgelassen hat und die die ganze Zeit geblutet hat. Von dem Balkon des Hauses aus, in dem wir in Serê Kaniyê zu Besuch sind, beobachten wir die Seite von Ceylanpınar. Auf der anderen Seite der »offiziellen Grenze« sehen wir Menschen auf den Straßen. Eine solch nahe und unmögliche Sache kann es nicht geben. Auch für ein Volk kann kein Schmerz von diesem Ausmaß existieren.

Die Geschichte unseres Gastgebers ist eine der vielen mit dem Schmerz verbundenen und im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten doch »alltäglich«. Nachdem die Grenze gezogen worden war, blieben einige Geschwister auf der einen Seite der Schienen und die anderen auf der anderen Seite. Aufgrund der Tatsache, dass die Schienen die Grenze zwischen zwei Staaten bildeten, blieb der Vater unseres Gastgebers auf der Seite von Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) und konnte dann seine Geschwister auf der anderen Seite der Grenze, seine Kinder und seine EnkelInnen nicht mehr sehen. Seine Kinder leben in derselben Straße in verschiedenen Staaten. Genau wie andere Geschwister, Verwandte, FreundInnen und Verliebte. Genau wie in Qamişlo (Al-Qamishli), Kobanê (Ain al-Arab) und den anderen kurdischen Städten entlang der Grenze. Diese zwangsweise gezogene Linie hat den Menschen auf beiden Seiten der Grenze Schmerzen bereitet, aber die KurdInnen konnten dadurch nicht als Geiseln genommen werden. Obwohl mittlerweile 90 Jahre vergangen sind, steht die Grenze als ein Objekt da, das nicht mehr ist als Schienen und ein gesicherter Zaun. Es geht genau durch die Mitte von Serê Kaniyê hindurch.

In dieser Stadt leben 40 000 Menschen, hauptsächlich Kurdinnen und Kurden, es gibt aber auch arabische und assyrische Bevölkerungsteile. Die AssyrerInnen leben schon immer hier. Dagegen wurden die AraberInnen zwischen 1960 und 1970 vom Baath-Regime systematisch hier angesiedelt. Als die syrische Revolution begann, haben die AssyrerInnen eine neutrale Position bezogen. Die arabischen Klans dagegen haben widersprüchliche Positionen. Es gibt Klans, die sich mit den KurdInnen sehr gut verstehen, aber auch welche, die mit dem türkischen Staat zusammenarbeiten. Nebenbei bemerkt, die Mehrheit der Klans bezieht eine neutrale Position. Eine kollektive arabische Kraft gibt es in dem Gebiet somit nicht.

Die Politik des türkischen Staates ist in Syrien und Westkurdistan ins Leere gelaufen, weshalb er in dem Gebiet aufgrund der kulturellen, geographischen Besonderheiten eine instabile Lage schaffen will. Serê Kaniyê ist zwar nicht die strategisch wichtigste Stadt in Westkurdistan, aber ein Tor, um nach Westkurdistan zu kommen. Es ist die letzte Station von Cizîr. Das Gebiet von Cizîr, das bei Dêrik (Al-Malikiya) beginnt, endet hier. Um von hier aus nach Kobanê zu gelangen, muss Tel Abyad passiert werden; dieses Gebiet wurde von KurdInnen »gesäubert« und befindet sich in den Händen der »Freien Syrischen Armee« (FSA). Weil sich der Krieg in Syrien verschärft, die KurdInnen, die gegen den Krieg sind, ihre eigene Administration auf die Beine stellen und diese Administration sich mit der Zeit institutionalisiert, ist die Türkei gezwungen, ihre inflationäre Politik für die Region neu zu erfinden. Deshalb wurden verschiedene Szenarien entwickelt, wie die Verhinderung der kurdischen Einheit oder die Förderung der Instabilität in der Region. Nach dem Plan sollten Regime, Oppositionelle und KurdInnen sich untereinander bekämpfen und so an Macht verlieren, womit sie dann geschwächt und nicht in der Lage wären, eine eigene Administration aufzubauen.

In Serê Kaniyê anzufangen war für den türkischen Staat ein logischer Schritt, weil die Stadt in 50 km Entfernung zum Hesîçe-Gebiet liegt und dort Banden existieren, die dem türkischen Staat verbunden sind.

Falls Serê Kaniyê in die Hand dieser Gruppen gefallen wäre:

Die Verbindung zwischen den Gebieten Cizîr und Kobanê-Afrîn, die unter kurdischer Führung stehen, wäre unterbrochen worden und beiden Gebieten würden ähnliche Operationen widerfahren. Wie man sich erinnern kann, wurden in Pîrsûs (Suruç; auf türkischer Seite) Vorbereitungen getroffen, um Kobanê zur selben Zeit anzugreifen.

Wäre Serê Kaniyê in die Hände der von der Türkei unterstützten Banden gefallen und wären diese Gruppen über Hesîçe und Qoser (Kızıltepe) in die Städte Dirbêsîye (Al-Darbasiya) und Amûde eingedrungen, hätten diese dann in eine Blockade gezwungen werden sollen. Übrig geblieben wären dann nur noch die Städte Qamişlo und Dêrik.

In dieser Phase sollten dann, sofern nötig, über Nisêbîn (Nusaybin) gegen Qamişlo und mit den in Cizîr (Cizre) und Silopiya (Silopi) vorbereiteten Gruppen gegen Dêrik ähnliche Operationen durchgeführt werden. Dieses Szenario lässt sich natürlich nicht einfach umsetzen. Jedoch hat die Bereitschaft mancher KurdInnen und mancher Gruppen innerhalb der »Freien Syrischen Armee« für dieses Abenteuer den türkischen Staat, dessen Syrien-Strategie ins Leere gelaufen ist und der keine andere Wahl mehr hatte, zu dem Unternehmen gedrängt. Nach dem Motto »Es könnte ja klappen« wurde die Operation, bei der Millionen von Dollar ausgegeben wurden, begonnen. Würde der Plan aufgehen, bräche ein »kurdisch-arabischer Krieg« aus, die Grenzen wären faktisch aufgehoben und der türkische Staat könnte jederzeit in Westkurdistan intervenieren, die Stabilität schlüge in Chaos um und der kurdische Status in Syrien erlitte einen tödlichen Rückschlag. Im nächsten Schritt würde das zwischen Qamişlo und Dêrik liegende Erdöl-Gebiet Rimeylan den Händen der KurdInnen entrissen; die Erdölvorkommen sind hier bekanntlich reicher als in Kerkûk.

Die Quartiere für die Gruppen wurden nach türkischem Plan in Riha (Urfa) und Serê Kaniyê (Ceylanpınar) eingerichtet, von dort aus drangen sie dann in Serê Kaniyê ein. Sie lieferten sich da Gefechte mit einigen Einheiten des Regimes und setzten sich dann in den Vierteln mit arabischer Mehrheit fest.

Die KurdInnen versuchten, Gefechte zu vermeiden, und suchten nach einem Verhandlungsweg. Obwohl manche behaupteten, »die Volksverteidigungseinheiten (YPG) konnten Serê Kaniyê nicht schützen«, haben sich die kurdischen Verantwortlichen, weil sie wussten, dass der türkische Staat diesen Plan geschmiedet hatte, gegen Gefechte entschieden. Darum, dass in der Stadt eine friedliche Atmosphäre herrscht, war vor allem der Vorsitzende des Kurdischen Rats Abid Xelil sehr bemüht. Er wurde auch von der arabischen Bevölkerung überaus geschätzt. Er war an den Vorbereitungen für eine Kundgebung, die am 18. November unter arabischer, kurdischer und assyrischer Beteiligung stattfinden sollte, beteiligt. Am selben Tag wurde er mit zweien seiner Freunde Opfer eines Attentats, als er auf dem Rückweg von Gesprächen mit von der Türkei geschickten Gruppen war. Das Wirken Abid Xelils stand im Widerspruch zu den Plänen des türkischen Staates, er war für die kurdisch-arabische Verständigung tätig. Außerdem war er Vorsitzender der autonomen Administration der KurdInnen. Damit stand er im Fadenkreuz und wurde dann auch getroffen. Unmittelbar nach seiner Ermordung begannen die Gefechte, doch trotz der Verstärkung der Banden haben die YPG sie aus der Stadt vertrieben. Dieser Widerstand der KurdInnen hat die türkische Planung ins Leere laufen lassen und damit auch wichtige politische Ergebnisse erzielt.

Erstens: Es gab keine Kämpfe zwischen kurdischer und arabischer Bevölkerung. Im Gegenteil, die führenden Köpfe der arabischen Gesellschaft setzten sich für einen Waffenstillstand ein und erklärten den YPG gegenüber, »mischt Euch nicht ein, die Gruppen werden von uns hinausgedrängt werden«. Die YPG haben diesen Vorschlag akzeptiert und somit diesen führenden Persönlichkeiten die Initiative in die Hand gegeben und ihrer eigenen Arbeit eine Legitimität verschafft.

Zweitens: Der Widerstand von Serê Kaniyê war die erste Kampferfahrung der YPG in Westkurdistan und hat gezeigt, dass die YPG keine künstliche Einheit sind; vielmehr wurde demonstriert, dass sie selbst vom türkischen Staat unterstützte Gruppen zurückdrängen können.

Drittens und am wichtigsten:
Es wurde gezeigt, dass der türkische Staat und auch andere Mächte wegen der KurdInnen in diesen Gebieten nicht »ihre Pferde ausreiten« können. Damit ist die Stellung der kurdischen Politik in allen Teilen [Kurdi­stans] gestärkt worden. In naher Zukunft wird sich zeigen, dass diese politische Errungenschaft genauso wichtig ist wie der Widerstand im Zap-Gebiet 2008.

Quelle: Amed Dicle, ANF 30. November 2012
Kurdistan Report
Download der aktuellen Ausgabe Kurdistan Report Nr. 165 Januar/Februar 2013, hier

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.